- europäische Einigungsbewegung: Die Idee des vereinten Europas
- europäische Einigungsbewegung: Die Idee des vereinten EuropasVom Imperialismus bis zum NationalsozialismusDie deutschen Mitteleuropaplanungen des frühen 20. Jahrhunderts und des Ersten Weltkriegs versuchten nationales Hegemonialstreben mit dem Deckmantel europäischer Ideale zu kaschieren. In völliger Verkehrung des ursprünglichen Ziels europäischer Utopien — der Idee der europäischen Einheit — wurde ein neues Modell entwickelt, das den Kontinent aufteilte in einen westlichen Teil, geprägt von den Idealen der Französischen Revolution, einen mittleren Teil, geprägt von den vermeintlichen Vorzügen der deutschen Kultur, sowie einen zivilisatorisch und kulturell unterlegenen östlichen Teil. Letzterer, die Staatenwelt Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas, besaß in diesen Überlegungen üblicherweise den Stellenwert eines untergeordneten wirtschaftlichen Ergänzungsraumes, der dem Zentrum die eigenen Ressourcen liefern und ihm die Fertigprodukte abnehmen sollte. Solche und ähnliche Pläne gab es viele in deutschen Regierungs- und Wirtschaftskreisen zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Erst nach diesem Krieg, der später einmal zu den beiden »Urkatastrophen« des 20. Jahrhunderts gezählt werden sollte, stellte sich die Frage nach der Schaffung dauerhafter Rahmenbedingungen für den Frieden in Europa mit bislang nicht gekannter Dringlichkeit. Zudem hatte sich im Verlauf des Kriegs gezeigt, dass die USA allen europäischen Mächten gegenüber überlegen waren, und die Russische Revolution schließlich lieferte nach 1918 weitere Gründe dafür, dass in den Zwanzigerjahren eine Vielzahl europäischer Neuordnungskonzepte entwickelt wurden. Wohl am publikumswirksamsten bekannte sich zur gleichen Zeit der junge Österreicher Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi zum Gedanken einer europäischen Föderation. Mit seiner 1923 gegründeten »Paneuropa-Union« schuf er eine Organisation, der bald Tausende von Parlamentariern und anderen einflussreichen Persönlichkeiten angehörten. Sie unterstützten das 1924 im »Paneuropäischen Manifest« festgeschriebene Ziel, sämtliche demokratischen Staaten Kontinentaleuropas zu einem politischen und wirtschaftlichen Zweckverband zusammenzuschließen, der als gleichberechtigte Weltmacht neben Amerika, dem britischen Weltreich, Russland und Ostasien keine fremde Einmischung hinzunehmen brauchte. Doch die Pläne wuchsen nicht über die Unverbindlichkeit des Programms hinaus. Auch der französische Ministerpräsident Aristide Briand scheiterte mit seinem im September 1929 vor dem Völkerbund in Genf vorgestellten Plan für eine engere Verbindung der europäischen Staaten, war doch die Furcht der französischen Regierung vor einem erneuten Erstarken Deutschlands zu offensichtlich, als dass der Plan für Berlin akzeptabel gewesen wäre.Anfang der 1930er-Jahre unterstützte die französische Regierung gezielt Pläne zur Schaffung einer mitteleuropäischen Staatengemeinschaft, die als Gegengewicht zum erstarkenden Deutschen Reich wirken sollte. Die Reichsregierung setzte hingegen alles daran, den eigenen Einfluss in Ostmittel- und Südosteuropa mit ökonomischen Mitteln zu fördern. Dabei konnte sie sich auf eine Vielzahl von Initiativen berufen, die seit Anfang der Zwanzigerjahre besonders in rechtsintellektuellen, antidemokratischen Kreisen entstanden waren und einen Neuordnungsauftrag des Deutschen Reichs für Mitteleuropa formuliert hatten.Die von den nationalsozialistischen Machthabern angestrebte neue Ordnung Europas lehnte jegliche föderativen Strukturen ab und rief nach einem zentralistischen »Großgermanischen Reich«, das nötigenfalls mit Gewalt zu schaffen sei. Der Zweite Weltkrieg war also keinesfalls ein europäischer Bürgerkrieg zwischen Nationalismus und Bolschewismus, wie die NS-Propaganda immer behauptete. Hitler und seinen Paladinen ging es letztlich nur um die Umsetzung des nationalsozialistischen Lebensraumkonzepts.Europas Neuordnung nach den Vorstellungen des europäischen WiderstandsWenn die NS-Europapropaganda trotzdem im Sinne der uns heute vertrauten Europaidee wirksam werden sollte, so könnte dies also geradezu als eine List der Geschichte aufgefasst werden. Denn nicht zuletzt deshalb, weil das Regime mit großem Nachdruck seinen europäischen Neuordnungsauftrag verkündete, sahen sich deutsche und europäische Widerstandskreise dazu herausgefordert, eigene Konzepte für die Zeit nach der nationalsozialistischen Herrschaft zu entwickeln. So bezog sich zum Beispiel das »Programm der deutschen Opposition für Deutschland und Europa«, das Hans Schönfeld, der deutsche Direktor der Forschungsabteilung des Weltkirchenrats, im Mai 1942 in Stockholm vorstellte, ausdrücklich auf die nationalsozialistische Propaganda. Schließlich hieß es in Punkt3 des Programms, dass nach der Beseitigung der NS-Diktatur »eine europäische Föderation von freien Staaten und Nationen« mit einer gemeinsamen Regierung und einer für die Sicherheit Europas zuständigen europäischen Armee geschaffen werden solle. Einer solchen Föderation musste auch ein vom Nationalsozialismus befreites Deutschland angehören. Ähnliches war von Léon Blum, dem ehemaligen sozialistischen Ministerpräsidenten Frankreichs, bereits im Oktober 1939 gefordert worden, als er die Schaffung eines föderativen und abgerüsteten Europas einschließlich Deutschlands zu den »Kriegszielen« der europäischen Sozialisten erklärte. Wie Blum hatten sich kurz nach Entfesselung des Kriegs zahlreiche Schriftsteller, Gelehrte und Politiker aus vielen europäischen Staaten für die Verwirklichung der europäischen Ideale der Zwischenkriegszeit als vorrangige Aufgabe der Nachkriegszeit ausgesprochen. Sie lieferten all jenen Widerstandsorganisationen gute Argumente, die im weiteren Verlauf des Kriegs ein europaweites Netzwerk bildeten, das sich für die europäischen Ideale als Garanten einer friedlichen Zukunft des Kontinents einsetzte.Der gesamteuropäische Widerstandskongress in Paris: Abschied von der absoluten StaatssouveränitätEine zentrale Rolle in diesem Netzwerk spielte die schweizerische Europaunion, die den entsprechenden Plänen nicht nur Öffentlichkeitswirksamkeit verschaffte, sondern den europäischen Widerstand damit auch ermunterte, die eigenen Planungen weiter voranzutreiben und Modelle zu entwerfen, auf die die Politik nach dem Sturz Hitlers zurückgreifen konnte. So trafen sich Vertreter verschiedener europäischer Widerstandsorganisationen im Frühjahr 1944 in Paris, um sich über die Grundzüge einer künftigen Europapolitik zu verständigen. Im Abschlusskommuniqué dieses einzigen gesamteuropäischen Widerstandskongresses hieß es unter anderem, dass als Grundlage einer künftigen Friedensordnung vom Dogma der absoluten Staatssouveränität und der daraus resultierenden zwischenstaatlichen Anarchie Abschied genommen werden müsse. Für die Delegierten stand außer Frage, dass nur ein befriedetes und geeintes Europa als Garant des Weltfriedens dienen konnte. Dabei sprachen sie sich für eine bundesstaatliche Lösung aus, da diese allein strittige Grenzfragen lösen und die Teilnahme des deutschen Volkes am europäischen Leben gestatten konnte, ohne dass es wieder zu einer Gefahr für andere europäische Völker werden würde. Dazu gehörte aber auch, dass Deutschlands politische und wirtschaftliche Struktur — notfalls unter Zwang — so zu ändern war, dass es sich in die europäische Föderation eingliedern ließ.An der Pariser Konferenz nahmen Delegierte aus Dänemark, Frankreich, Italien, Norwegen, den Niederlanden, Polen, der Tschechoslowakei und Jugoslawien sowie Mitglieder deutscher Widerstandsgruppen teil. Auch wenn das Abschlusskommuniqué keinen Hinweis auf die Staaten enthielt, aus denen die europäische Föderation gebildet werden sollte, deutet die Zusammensetzung den gesamteuropäischen Ansatz an. Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Aggression entstanden in den Kreisen des europäischen Widerstandes und Exils aber auch bescheidenere, räumlich begrenzte Föderationsmodelle.Regionale Föderationspläne im Osten und WestenDas polnisch-tschechoslowakische Konföderationsabkommen aus dem Januar 1942 wurde von den Exilregierungen beider Länder mit dem Ziel geschlossen, nach Kriegsende einen gemeinsamen Bundesstaat zu gründen, der zugleich den Rahmen für die Schlichtung der vorkriegszeitlichen Grenzstreitigkeiten bieten sollte. Fast zeitgleich einigten sich Vertreter der griechischen und der jugoslawischen Exilregierungen auf ein ähnliches Abkommen. Die angestrebte Balkanföderation hätte in der Tat eine historische Konfliktregion befrieden und darüber hinaus als Kern einer Donau- oder Balkanföderation dienen können, wie sie bereits vom tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Edvard Beneš Anfang der Dreißigerjahre vorweggenommen worden war.Regionale Föderationsplanungen fanden in den Kriegsjahren freilich nicht nur in Bezug auf die Staatenwelt Ostmittel- und Südosteuropas statt. Unter westlichen Politikern erwies sich der Außenminister der belgischen Exilregierung, Paul-Henri Spaak, als besonders rege. Sein Konzept sah einen Zusammenschluss Belgiens, der Niederlande, Luxemburgs und Frankreichs vor. Dabei konnte er sich auf die Unterstützung der französischen Exilregierung berufen, in der Jean Monnet als Ansprechpartner diente. Über ihn wurde eine Verbindung mit französischen Widerstandskreisen hergestellt. Diese belgisch-französische Gruppe befasste sich intensiv mit Grundfragen einer westeuropäischen politisch und wirtschaftlich ausgerichteten Union. Dass Großbritannien in solchen Überlegungen eine feste Größe darstellte, überrascht angesichts der Bedeutung Londons für die europäische Exilpolitik der Kriegsjahre nicht — wenngleich Charles de Gaulle schon vor Kriegsende an der britischen Bereitschaft zur Integration in eine westeuropäische Union zweifelte. Für ihn sollte sich der Kern der Föderation auf Frankreich und die Beneluxstaaten konzentrieren. Das schloss eine spätere Süderweiterung ebenso wenig aus wie die Einbeziehung des rheinisch-westfälischen Industriereviers oder eine Assoziation mit Großbritannien.Möglicherweise wurzelte die Skepsis de Gaulles in der Erkenntnis, dass Großbritannien aufgrund seiner imperialen Interessen und angesichts der großen Bedeutung, die London den Beziehungen zu den USA beimaß, ein entschlossenes europäisches Engagement schwer fallen würde. Dabei gab es die europäische Bewegung in Großbritannien in Gestalt der Federal Union, die, nach dem Abschluss des Münchener Abkommens gegründet, binnen kurzem mehr als 10000 Mitglieder vornehmlich aus dem universitären und politischen Bereich gewonnen hatte und sich mit Nachdruck für eine föderative Neuorganisation Europas einsetzte. Auch hatte de Gaulle als Beauftragter des französischen Kriegsministeriums im Juni 1940 persönlich an einer Initiative für einen anglofranzösischen Bund mitgewirkt. Dieser hätte nach Kriegsende zweifellos als Kern einer britisch-französischen Union dienen können. Die Unterzeichnung des deutsch-französischen Waffenstillstandsabkommens durch die französische Regierung markierte allerdings rasch das Ende dieser Initiative. Auf ihrer Suche nach Verbündeten im Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland blieb der britischen Regierung nun nichts anderes mehr übrig, als jenseits des Atlantiks um Unterstützung nachzusuchen.Roosevelts Konzept der »Politik der einen Welt«Das Erscheinen der USA auf dem europäischen Kriegsschauplatz unterstrich den machtpolitischen Bedeutungsverlust der europäischen Nationalstaaten: Ohne nordamerikanische Hilfe war an eine Bezwingung der nationalsozialistischen Herrschaft nicht zu denken. Mochte Winston Churchill anfangs vielleicht noch gehofft haben, mit nordamerikanischer Unterstützung den eigenen Weltmachtstatus bewahren zu können, so musste er spätestens im Oktober 1943 erkennen, dass seine politischen Konzepte, die auf eine europäische Neuordnung im Sinne eines föderativen Systems zielten, nicht mehr gegen den Willen Washingtons durchzusetzen waren. Seinerzeit hatte er sich öffentlich für die Gründung eines europäischen Staatenbundes unter britischer Führung und unter Ausschluss der Sowjetunion eingesetzt. Für den amerikanischen Präsidenten bedeutete das aber lediglich den Versuch der Restauration einer in unterschiedliche Machtblöcke unterteilten Welt, die bereits in ihrem Keim die Saat künftiger Weltkriege in sich tragen würde. Als Alternative dazu wollte Franklin D. Roosevelt allein sein Konzept der one world policy, der »Politik der einen Welt«, gelten lassen. Nur eine globale politische Neuordnung, wie sie bereits in der Atlantikcharta vom August 1941 in groben Umrissen skizziert worden war, schien ihm einen Ausweg aus der zwischenstaatlichen Anarchie der Nationalstaaten aufzuzeigen. Dabei spielte eine wie auch immer gestaltete europäische Föderation eine nur nachgeordnete Rolle, während der Mitwirkung der Sowjetunion eine zentrale Bedeutung zukam.Das Funktionieren der one world policy hing freilich von einem Wertekonsens der vier Hauptmächte ab. Wie kritische Stimmen, etwa Churchill oder auch der amerikanische Diplomat GeorgeF. Kennan, schon früh prognostiziert hatten, stellte jedoch das sowjetische Freiheits- und Demokratieverständnis ebenso wie die Moskauer Auffassung vom Selbstbestimmungsrecht der Völker ein grundsätzliches Hindernis für eine gemeinsam mit den Westmächten betriebene globale Sicherheitspolitik dar. Allerdings vergingen nach Kriegsende einige kostbare Monate, bis sich diese Erkenntnis vor allem in amerikanischen Regierungskreisen durchsetzte und zu einer Abkehr von der rooseveltschen Politik führte. In der Zwischenzeit hatte die expansive Dynamik der sowjetisch-kommunistischen Politik bereits in vielen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas jene politischen Leerräume gefüllt, die mangels rasch und konsequent eingeleiteter Neuordnungsmaßnahmen im Sinne europäisch-föderaler Modelle nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs entstanden waren.Teilung durch den Eisernen VorhangDas allzu lange Festhalten an einer universellen Friedensordnung hatte also erheblichen Anteil an der Entstehung des bipolaren Weltsystems, das unter anderem Europa durch einen »Eisernen Vorhang« zweiteilte und damit jedes gesamteuropäisch angelegte Neuordnungskonzept von vornherein ausschloss. Winston Churchill hatte das Bild vom »Eisernen Vorhang« im März 1946 während einer Rede in Fulton (USA) geprägt. Das bedeutete eine klare Absage an all jene Gruppen oder Organisationen, die weiterhin die Gründung eines gesamteuropäischen Bundesstaates anstrebten — so wie es im Herbst 1946 im Hertensteiner Programm der europäischen Föderalisten verkündet wurde oder wie es sich die wenig später gegründete Union Européenne des Fédéralistes (UEF) zum Ziel setzte. Der Brite zweifelte dagegen nicht mehr an der Gefahr, die von den expansiven Zielen der Sowjetunion für die Freiheit auch jener europäischen Staaten ausging, die noch nicht dem sowjetischen Machtbereich angehörten.Europarat: Zusammenschluss der freien LänderDie Gefahr, die von der Sowjetunion ausging, reflektierend, forderte Churchill im September 1946 in Zürich die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa als einer europäischen Staatenfamilie, in deren Mittelpunkt die deutsch-französische Partnerschaft stehen sollte. Nur die Überwindung des jahrzehntealten Gegensatzes der beiden großen Kontinentalmächte konnte, so glaubte Churchill, ein Wiederaufleben Europas ermöglichen. Als einen ersten Schritt in die richtige Richtung forderte er die Gründung eines Europarats, wobei er keinen Zweifel daran ließ, dass sich nur die freien Länder des Kontinents in diesem Gremium konstituieren sollten. Daraus würde sich, wie er hoffte, der Kern einer künftigen westeuropäischen Union entwickeln. Diesen Vereinigten Staaten von (West-)Europa war in Churchills Konzept die Rolle einer »dritten Kraft« zugedacht, die sich als gleichberechtigte Macht neben den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion auf der internationalen politischen Bühne platzieren sollte.Dabei ging es weder Churchill noch anderen konservativen europäischen Politikern wie etwa Charles de Gaulle um die Umsetzung eines ideologisch geprägten Europabildes, sondern einzig um pragmatische Maßnahmen zur Selbstbehauptung Europas, zur Sicherung und Mehrung seines Wohlstands und zur Stärkung der Vereinten Nationen als global wirkender friedenssichernder Instanz.Eine europäische »dritte Kraft«Ähnliche Konzepte, die von einer europäischen »dritten Kraft« ausgingen, wurden schon seit längerem im linken politischen Spektrum Westeuropas diskutiert. So hatte sich die britische Labour Party in ihrem frühsommerlichen Wahlkampf des Jahres 1945 entschieden für die Schaffung der »Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa« eingesetzt. Diese sollten als Brücke zwischen den USA und der Sowjetunion dienen, da sie, wie es hieß, aufgrund ihrer freiheitlich-demokratischen Ordnung einerseits das Vertrauen Washingtons besäßen, andererseits, aufgrund ihrer sozialistischen Regierung, das Vertrauen Moskaus gewinnen könnten.Etwa zeitgleich war von Léon Blum ein enges britisch-französisches Bündnis als Kern einer freiheitlichen westlichen Familie gefordert worden, die gemeinsam den europäischen Wiederaufbau vorantreiben und Stalin von einseitigen Gewaltmaßnahmen abbringen sollte. Für den Politikwissenschaftler Richard Löwenthal lag noch im Frühjahr 1947 in einem solchen Modell die einzigartige Chance, mittels der Verbindung des sozialistisch regierten britischen Weltreichs und der westeuropäischen Staaten eine Sicherheitszone zwischen den beiden neuen Weltmächten zu schaffen, die nach außen als Vermittler zwischen den unterschiedlichen Interessen dienen, nach innen jedoch den Umbau Europas nach sozialistischem Muster vorantreiben sollte. Mit diesen Worten hatte er den Abschluss des britisch-französischen Dünkirchenvertrags am 4. März 1947 kommentiert, der sowohl in der französischen Nationalversammlung als auch im Londoner Unterhaus lebhaft als Verwirklichung eines Kernelements des Dritte-Kraft-Modells begrüßt worden war.Allerdings zeigten sich im Laufe der bilateralen Verhandlungen grundsätzliche Differenzen über den künftigen Weg der westeuropäischen Annäherung. So hatte die französische Seite lange Zeit auf eine Auflösung des deutschen Staatsverbandes gedrängt und damit primär eine Abtrennung des Rhein-Ruhr-Gebiets gemeint. Großbritannien hingegen befürchtete in diesem Fall ein ökonomisches Chaos, das nicht nur die Besatzungskosten über Gebühr in die Höhe treiben würde, sondern auch noch eine mögliche neue Wurzel deutschen revanchistischen Denkens bilden könnte. So verzögerten die britisch-französischen Meinungsverschiedenheiten über das künftige Geschick Deutschlands den Abschluss des Abkommens erheblich, führten aber zugleich auch zu einer engeren britisch-amerikanischen Abstimmung in besatzungspolitischen Fragen.Auswirkungen der TrumandoktrinAngesichts der zunehmenden Konfrontation zwischen den Westmächten und der Sowjetunion wollte die britische Regierung nun die Rolle der USA als Garant stabiler politischer und ökonomischer Verhältnisse in Westdeutschland und Westeuropa weiter festigen. Das grundsätzliche Interesse an einer solchen Rolle hatte Präsident Harry S. Truman ohnehin in seiner Rede vor beiden Häusern des amerikanischen Kongresses formuliert, als er am 12. März 1947 die Bereitschaft der USA verkündete, weltweit totalitäre Unterdrückung zu bekämpfen. Die Trumandoktrin unterstrich die Bereitschaft der amerikanischen Regierung, den Wiederaufbau Westeuropas mittels großzügiger Wirtschaftshilfe zu fördern und es damit zugleich fest in ein transatlantisches Sicherheitssystem zu integrieren. Dazu bedurfte es zunächst der Überwindung nationaler Schranken zwischen den verschiedenen Volkswirtschaften der westeuropäischen Staaten. Die grundsätzliche Bereitschaft dazu war vorhanden und wurde auch vorausgesetzt, denn die sich verhärtenden Fronten zwischen Ost und West ließen aus Sicht der westeuropäischen Staaten jeden nationalen Alleingang als gefährlich erscheinen. Eine gemeinsame westeuropäische Organisation verlangte jedoch auch nach einer Beteiligung der westlichen Besatzungszonen Deutschlands sowie der unverzüglichen Erschließung ihrer Wirtschaftskraft und ihres Industriepotenzials. Damit wurde zwar der Weg in die deutsche Zweistaatlichkeit weiter ausgebaut, doch darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, dass die Reduzierung des deutschen Staatsgebiets auf die Westzonen und damit die klare Trennung von allen preußischen Wurzeln die Zustimmung mancher Nachbarn zur Integration Westdeutschlands in die ökonomischen, politischen und militärischen Strukturen der westlichen Welt erleichterte.Gründungen: Der Wirtschaftsverband OEEC und die politische Instanz EuroparatDie Gründung der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) am 16. April 1948 schuf den organisatorischen Rahmen für einen multinationalen westeuropäischen Wirtschaftsverband. Was allerdings immer noch fehlte, war eine politische Instanz zur Steuerung des dazu notwendigen weiteren Integrationsprozesses. Auf dieses Defizit machte die französische Regierung schon im Sommer 1948 aufmerksam, als sie die Einrichtung einer »Europäischen Parlamentarischen Versammlung« forderte, die eine westeuropäische Wirtschafts- und Währungsunion vorbereiten sollte. Auch wenn die Initiative zunächst von den Brüsseler-Pakt-Staaten als Adressaten des Vorschlags einhellig begrüßt wurde, zeigten die anschließenden Konsultationen erhebliche Differenzen über die Kompetenzen dieser Europäischen Versammlung. Während die britische Regierung nachdrücklich für den Primat nationaler Politik eintrat, forderte Paris bereits die Verabschiedung einer Europäischen Verfassung.Als Kompromiss wurde im Dezember 1948 das Konzept eines einstimmig beschließenden Europarats entwickelt, der in zwei vierzehntägigen Sitzungsperioden pro Jahr Vorschläge für die Regierungen der Mitgliedstaaten erarbeiten sollte, um »eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern zum Schutze und zur Förderung der Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden, herzustellen und ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern« (Artikel1 der Satzung des Europarats). Am 5. Mai 1949 wurde das Statut des Europarats von den 10 Gründungsmitgliedern angenommen. Westeuropa besaß nun ein Gremium, in dem nationenübergreifend rechtliche, wirtschaftliche und kulturelle Fragen diskutiert werden konnten. In der Regel wurden die Ergebnisse dieser Diskussionen in Form von Konventionen vorgelegt. Darunter sollten sich später einige durchaus bedeutende Dokumente wie zum Beispiel die »Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten« befinden, die im September 1953 in Kraft trat.Dennoch zeigte die Entstehung dieser ersten politischen Organisation Westeuropas deutlich, dass trotz der Dynamik, die die Europaidee nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gewonnen hatte, nationalstaatliche Interessenpolitik immer noch den europäischen Integrationsprozess überlagerte. Erst angesichts des weiter zunehmenden äußeren Bedrohungspotenzials kam es in der Frühphase des Kalten Kriegs zu jenen entscheidenden Weichenstellungen, die über den Schumanplan zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als Keimzelle einer echten Europäischen Union führten.Dr. habil. Jürgen ElvertWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Europa: Integration als Antwort auf die östliche HerausforderungEuropäische Union: Die Weiterentwicklung der IntegrationDie Anfänge der europäischen Integration 1945-1950, herausgegeben von Wilfried Loth. Bonn 1990.Gasteyger, Curt: Europa von der Spaltung zur Einigung. Darstellung und Dokumentation. 1945-1997. Neuausgabe Bonn 1997.
Universal-Lexikon. 2012.